Kintsugi

Boot ist vorbereitet, die Wetter-Planung ist abgeschlossen. Dafür habe ich zunächst nach einem potenziellen Wetterfenster in Windy Ausschau gehalten, in LuckGrib immer wieder Routen plotten lassen und schlussendlich mich für eine entschieden. Diese dann aus LuckGrib als GPX-Datei exportiert und in Windy importiert. Denn Wind ist ja die eine Sache, wir wollen aber nicht wieder in doofe Gewitter reinsegeln.

Inselhopping

Also, Abfahrt Donnerstag am frühen Abend. Dabei würde auf der rund 260 Seemeilen langen Strecke zwar die eine oder andere Stunde unter Motor notwendig werden. Allerdings habe ich auch einen Termin und möchte lieber ein paar Tage Puffer haben. Weil ich die mit dieser Planung haben werde, peile ich auch nicht direkt Marseille an, sondern fahre erst noch nach Porquerolles.

Aufgeregt bin ich nicht mehr. Die Bedingungen werden exzellent sein, über Seekrankheit mache ich mir keine Gedanken. Insbesondere nicht, weil ich mein Wundermittel dagegen gefunden habe: Ich bereite mir einen ganzen Schwung Croque-Monsieur vor. Die kann ich aus irgendwelchen Gründen immer essen und rutsche damit nicht in den Teufelskreis aus Seekrankheit und zu wenig Energie rein.

Die Passage verlief völlig unspektakulär. Ein bisschen Verkehr ist, aber wirklich nicht auf dem Niveau der Schleuse vor Stavoren am Sonntagmittag nach einem schönen Wochenende. Wetter passt, bis auf eine kleine Kleinigkeit: in der Nacht auf Samstag um kurz vor 4 sitze ich in pottendickem Nebel. Bisher hatte ich Nebel immer mit Flaute assoziiert, hier wehten aber gerade sicherlich über 10 Knoten Wind. Na gut, man lernt nicht aus. Weil Nebel auch nichts anderes als nasse Luft ist und ich in Anbetracht der Uhrzeit müde und es nachts kälter ist als draußen, habe ich dann das erste Mal seit Monaten auch das Ölzeug rausgekramt. Irgendwann war der Spuk wieder vorbei und wir segelten weiter, unspektakulär, nach Porquerolles.

Mir war langweilig, denn mein Buch war alle. Deshalb kommt ihr jetzt in den Genuss von einigen Videos über den letzten Teil der Passage.

Und wieso nun Kintsugi?

Zu dem letzten Video möchte ich noch ein bisschen erläutern.

Als Mensch hat man im Leben nicht nur eine Rolle oder einen Job, sondern nimmt eine Vielzahl von Rollen ein. Man ist zunächst einmal Tochter oder Sohn, möglicherweise Schwester oder Bruder, Freund:in, Partner:in, Kolleg:in, Enkelkind, vielleicht auch Mutter oder Vater. Dann noch mehr: An-Geburtstage-der-Belegschaft-Denker:in, Urlaubs-Organisierer:in, Alles-Reparierer:in oder Gute-Seele. Oftmals macht man dann noch „richtige“ Jobs oder ist sogar ehrenamtlich tätigt.

Mit dem Tod meiner Mutter bin ich radikal einer Rolle beraubt worden, die einen großen Platz in meinem Leben eingenommen hat. Ich war jetzt nicht mehr Tochter, von einem Tag auf den anderen und ich würde es auch nie mehr wieder sein. Diese Erkenntnis kam nicht von alleine und nicht gleich, das hat schon die eine oder andere Therapiesitzung benötigt.

Jedenfalls musste ich für mich herauszufinden, welche Rolle diese massive nun entstandene Lücke füllen sollte. Ich war auseinandergefallen, zerbrochen und sammelte die noch vorhandenen Teile von mir ein, um sie wieder zusammenzusetzen und die Teile, die nicht mehr waren, durch etwas neuem zu ersetzen. Eben wie es auch die Kunst des Kintsugis tut.

Auch das passierte nicht über Nacht, auch dies war ein Prozess.

Die Fahrt nach Porquerolles stellte nicht die Erfüllung eines Traumes dar. Ich habe mir das nicht gewünscht, das war alles keine Option. Ich musste das tun. Mit der Ankunft vor der Insel und der Wiederholung eines Spazierganges, den ich bereits 2018 einmal unternommen habe, habe ich das letzte Stückchen einsetzen können. Ich habe die letzte offene Aufgabe als „erledigt“ markiert. Die Reise hat nicht zwei Tage, sodern 5 Jahre gedauert, die Passage war nicht 260 sondern mehrere Tausend Seemeilen lang. Jetzt stehe ich am Ende dieser Reise und kenne meine neue Rolle

Ich bin nicht mehr Tochter. Ich bin dafür jetzt Navigatorin, Sturm-Ausreiterin, Unterwasserschiff-Schleiferin, Boots-Besitzerin, Mastbruch-Erleberin, Biscaya-Einhand-Überquererin, Elektrik-Refitterin, Flotillen-Mitglied, Wetter-Rats-Angehörige und Am-Steg-Freundschaften-Schließerin.

Ich bin Seglerin.

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Eine Antwort zu „Kintsugi“

  1. Avatar von Lars, SV STINA
    Lars, SV STINA

    Puh wie schön deine Worte zu Porquerolles, ich war gleich mit gerührt! Und ich kenne solche „Level“, die man plötzlich erreicht hat.
    Wir hatten unsere STINA vor fünf Jahren in Port Grimaud erstanden und so kenne ich die Ecke, wo du gerade bist, ganz gut und wir denken oft: Weshalb haben wir unsere STINA überhaupt von dort nach Kiel gesegelt… was natürlich ein großes und tolles Abenteuer war, aber ebenso fest stand: Wir kommen wieder! Und wir sind tatsächlich wieder auf dem Weg dorthin, viele Grüße aus Galizien von den Illas Cies!

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